»Facebook ist eine Firma, keine Geheimpolizei«

Roland Jahn, Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde, über Täter, Opfer, Freiheit und Botschaften

Hinterfragen und Aufklären - das sind die Leitmotive, die Roland Jahn (58) ein Leben lang begleiten. Im Redaktionsgespräch mit der Fuldaer Zeitung, veröffentlicht am 27.01.2012, betont er den Stellenwert der politischen Freiheit der Bürger und wie wichtig es ist, dass sich jeder Einzelne für sein Handeln verantwortlich sieht. Denn Anpassung an gesellschaftliche Strukturen sind nötig, müssten aber hinterfragt werden.

Warum ist 22 Jahre nach der Wende Ihre Behörde noch notwendig?

Roland Jahn: Die Behörde hat solange ihre Berechtigung, wie sie von der Gesellschaft gebraucht wird. Durch die Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes haben wir die Aufgabe, Überprüfungen im Öffentlichen Dienst bis zum Jahre 2019 durchzuführen. Wir haben die Aufgabe, es zu ermöglichen, dass Betroffene, die von der Stasi bespitzelt wurden, in ihre Akten schauen können. Vergangenes Jahr gab es 80 000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht, das heißt, für diese Aufgabe gibt es immer noch hohen Bedarf.

Viele Menschen zögern mit ihrem Antrag auf Akteneinsicht, aus Furcht davor, was zu Tage kommen kann. Wie haben Sie es mit Ihrer Akteneinsicht gehalten?

Roland Jahn: Ich hatte die Angst nicht. Ich wollte direkt wissen, was passiert war. Es hat sich bei mir und bei vielen Freunden bestätigt, dass die Akteneinsicht ein Gewinn ist. Ich habe durch die Akteneinsicht persönliche Enttäuschungen erlebt, weil enge Freunde mich verraten haben. Aber ich habe eben auch erlebt, dass Freunde standgehalten haben.

Verspüren Sie gut 20 Jahre nach der Wende eine Verbitterung gegenüber den Leuten oder dem damaligen System?

Roland Jahn: Ich hatte schon immer den Leitsatz "Lass Dich nicht verbittern" - so heißt ein Lied von Wolf Biermann. Dieser Satz hat mich geprägt, selbst als ich im Gefängnis saß. Ich habe nie eine Verbitterung gespürt, auch als ich später den Peinigern von damals begegnet bin. Ich will Gerechtigkeit, keine Rache. Mit ehemaligen Spitzeln suche ich das Gespräch, weil ich wissen will, wie das funktionieren konnte. Ich will Aufklärung, ich will verstehen. Vielleicht kann ich am Ende vergeben - aber ich kann nur das vergeben, was ich weiß.

In der DDR waren Sie ein Opfer. Heute sind Sie Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde. Ist das für Sie ein Stück Genugtuung?

Roland Jahn: Genugtuung ist ein schwieriges Wort. Ich habe mich auch nie als Opferlamm gesehen. Ich war immer der Akteur, der etwas entgegengesetzt hat. Ich habe am Wochenende erlebt, wie tausende Menschen bei unserem Bürgertag in der Stasi-Zentrale durch das Büro von Erich Mielke gegangen sind, dem Stasi-Minister. Da habe ich mich gefragt, was Erich Mielke jetzt wohl denken würde - und musste lächeln.

Sie werden häufig als Rebell an der Spitze einer Behörde beschrieben. Sie selbst sagen, sie wollen Anwalt der Opfer sein. Wie bewerten Sie heute Ihre Rolle?

Roland Jahn: Mit den Etiketten ist das so eine Sache, die verteilen meistens andere. Ich sehe mich als Aufklärer, das war ich als Journalist, das bin ich auch jetzt. Mir ist es wichtig, einen Dialog mit der nächsten Generation zu organisieren. An unserer Behörde haben wir ein Schild: "Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten". Das ist die Botschaft, die ich nächsten Generationen mitgeben möchte.

Wie bringt man junge Generationen dazu, sich für die DDR-Geschichte zu interessieren? Was kann Ihre Behörde tun?

Roland Jahn: Zuerst gilt es, der Gesellschaft zu ermöglichen, diese Akten zu nutzen. Zweitens ist es wichtig, Angebote für Schulen zu machen. Vorträge in Schulklassen zu halten. Zeitzeugen einzuladen, Geschichten zu erzählen. Vergangene Woche stand ich in einer vollen Aula vor 320 Schülern. Ich erzählte als Zeitzeuge von der DDR. Das ist wichtig, dass die Vergangenheit jungen Menschen sinnlich erfahrbar wird. Zusätzlich müssen wir auch die authentischen Orte weiterentwickeln. Denn sie haben eine Kraft, mit der sie selbst in ihrer Banalität, nämlich in der Banalität des Bösen etwas vermitteln können.

Sind die alten Kader zerschlagen oder gibt es noch die Seilschaften?

Roland Jahn: Natürlich gibt es Seilschaften. Seilschaft muss ja kein negativer Begriff sein, es kann etwas Positives sein. Wenn sich zum Beispiel Menschen in schwierigen Lebenssituationen helfen, sich gegenseitig zu stützen. Schwierig wird es dann, wenn diese Seilschaften versuchen, unseren Rechtsstaat zu untergraben, wenn diese Seilschaften versuchen, gegen die Opfer zu arbeiten, oder krumme Geschäfte machen. Hier muss genau hingeschaut werden und hier sind Medien und Justiz natürlich gefordert. Wie stehen Sie zu den Verhältnissen in China oder zu der Tatsache, dass beispielsweise in der Ukraine mit der Fußball-Europameisterschaft ein Großereignis stattfindet, obwohl dort die Menschenrechte nicht geachtet werden?

Dort, wo Menschenrechte verletzt werden, muss dagegen vorgegangen werden. Man muss es zumindest klar benennen. Da können wir die Erfahrungen aus der Vergangenheit nutzen. Wir können klar benennen, was eine Diktatur ist, wir haben zwei Diktaturen auf deutschem Boden erlebt. Man kann, wie in China, Geschäfte machen, aber man sollte nicht über Menschenrechtsverletzungen schweigen.

Sie lassen ehemalige Stasi-Mitarbeiter aus ihrer Behörde versetzen. Warum gibt es diese Notwendigkeit?

Roland Jahn: Diese Mitarbeiter haben Anfang der 90er Jahre den Weg in die Behörde gefunden. Für mich war das schon immer ein Fehler, weil ich denke, dass die Behörde dafür da ist, die Tätigkeit der Staatssicherheit aufzuarbeiten. Ich habe deswegen vorgeschlagen, dass es ein guter Weg wäre, wenn diese ehemaligen Stasi-Mitarbeiter versetzt werden in andere Bundesbehörden. Denn sie haben einen Arbeitsvertrag mit der Bundesrepublik und nicht mit der Stasi-Unterlagen-Behörde. Ich denke, dass es legitim ist, wenn man dafür sorgt, dass man die Empfindungen der Opfer ernst nimmt. Denn wenn ein Opfer zu mir in die Behörde kommt und sagt, dass es die Stasi im Rücken spürt und das es dem Opfer weh tut, dann will ich das ernst nehmen.

Eine zweite Chance können die Stasi-Mitarbeiter bei Ihnen nicht erhalten?

Roland Jahn: Selbstverständlich sollen auch die Mitarbeiter meiner Behörde, die früher bei der Stasi gearbeitet haben, eine zweite Chance erhalten. Aber man muss beiden Seiten gerecht werden. Das ist Politik. Sie haben den Arbeitsvertrag mit der Bundesrepublik, sie können aber auch woanders arbeiten, denn es soll niemand bestraft werden. Und im Übrigen ist es im öffentlichen Dienst ganz normal, dass Leute dort eingesetzt werden, wo sie für die Gesellschaft den größten Nutzen bringen. Und sie können versetzt werden.

Inwieweit ist der Einzelne verantwortlich für sein Handeln, zu dem er gezwungen wird?

Roland Jahn: Jeder ist für das verantwortlich, was er macht. Natürlich gibt es immer Rahmenbedingungen. Die sind in einer Diktatur anders als in einer Demokratie. Ich denke, dass es ein Recht auf Anpassung gibt. Wichtig ist, dass man sich klar macht, was die Anpassung zur Folge hatte, nämlich, dass man mit der Anpassung die Diktatur gestützt hat. Diese Diskussion kam bisher zu kurz. Wir dürfen nicht nur in Täter-Opfer-Schubladen denken. Die Gesellschaft muss in ihren Strukturen analysiert werden. Welche Rolle hat die schweigende Masse? Wir wollen in der Forschungsabteilung der Behörde verstärkt das Wirken der Staatssicherheit hinein in die Gesellschaft untersuchen. Wie hat das System der Angst gewirkt? Wie war es möglich, dass solche "Figuren" wie Erich Mielke vorne dran standen?

Wie denken Sie über die Täterdatei und die Vorratsdatenspeicherung - ist das was, was unser Rechtsstaat machen muss, oder bleibt da ein ungutes Gefühl?

Roland Jahn: Ich finde es ist nicht gut, wenn man in der Zeitung Überschriften liest wie "Face book ist wie die Stasi". Es darf hier keinerlei Gleichsetzung stattfinden. Die Stasi ist eine Geheimpolizei in der Diktatur. Face book ist ein Wirtschaftsunternehmen, das mit Hilfe von Daten Geld verdienen will. Wichtig ist aber eine Sensibilisierung unserer Gesellschaft für Datenmissbrauch. Und das kann durch die Beschäftigung mit der Stasi geschehen.

Fühlen Sie sich uneingeschränkt wohl in unserer Gesellschaft?

Roland Jahn: Die Frage habe ich mir 1983 gestellt, gleich als ich mit Gewalt aus meiner Heimat in den Westen gebracht worden bin, zumal manche zu mir gesagt haben: "Sei doch froh, jetzt bist du in der Freiheit." Natürlich habe ich diese Freiheit nicht als die Freiheit wahrgenommen, solange meine Eltern und meine Freunde von mir getrennt hinter der Mauer waren. Solange war es nur eine halbe Freiheit.

Und natürlich habe ich mir dann zum Ziel gesetzt, auch dieses System kritisch zu hinterfragen. Ich bin sogar im Westen in den Knast gekommen, weil ich gegen die Raketenstationierung in Bitburg protestiert hatte. Ich wurde durch das Bundesverfassungsgericht freigesprochen, weil eine Blockade keine Nötigung ist. Das Entscheidende ist doch, dass man dort, wo man ist, kritisch hinterfragt. Und ein Missstand in dieser Gesellschaft kann nicht damit gerechtfertigt oder abgeschwächt werden, bloß weil es woanders noch schlimmer war. Der entscheidende Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie ist, dass ich Missstände auf der Basis von Menschenrechten, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Informationsfreiheit ändern kann und nicht der Willkür der Herrschenden ausgeliefert bin.

Wären Sie denn gerne Politiker oder sehen Sie sich in der Position des Behördenleiters als Politiker?

Roland Jahn: In einer gewissen Art und Weise sind wir alle Politiker. Demokratie heißt Herrschaft des Volkes, und in dem Sinne heißt das, sich politisch einzubringen, egal ob man ein Mandat hat, ob man in einer Partei ist oder ob man in irgendeiner Funktion tätig ist. Was mich leitet, ist etwas, was schon zu DDR-Zeiten bei mir sehr ausgeprägt war: das Hinterfragen und Aufklären. Das ist etwas, was meinem Wesen entspricht. Das werde ich weitermachen. Hinterfragen kann durchaus politische Veränderungen herbeiführen. Aufklärung ist die Grundlage für politisches Handeln.

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